Willy Brandts historische Geste - damals umstritten, heute eine Ikone: ein Schritt zur Überwindung des Kalten Krieges.
Willy Brandt kniet vor dem Ghettodenkmal in Warschau. 10 Sekunden, 20 Sekunden, eine halbe Minute. Eine Geste, die wesentlich zur Rehabilitierung Deutschlands in der Welt beiträgt. 27 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kniet der Bundeskanzler in Warschau vor den Opfern nieder – stellvertretend für das deutsche Volk. Neben Auschwitz ist das Warschauer Ghetto Sinnbild für die Grauen des Holocaust. Ein Teil der polnischen Hauptstadt war zu einem gigantischen Gefängnis geworden. 400.000 Menschen vegetierten unter unwürdigen Umständen. Die meisten wurden nach Treblinka oder Auschwitz deportiert und dort ermordert. Mehr als 50.000 Juden starben im Ghetto.
Einen Tag vor der historischen Geste traf Bundeskanzler Willy Brandt zu seinem Besuch in Warschau ein. In der Bundesrepublik hinterläßt er eine polarisierte Gesellschaft. Die Opposition wirft Brandt „Verzichtspolitik“ vor. Der Bundeskanzler unterschreibt den Warschauer Vertrag im Namen einer bundesdeutschen Öffentlichkeit,
die akzeptiert hat, daß durch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nichts verschenkt wird, was durch Hitler nicht längst verspielt worden ist. Der Status Quo in Europa wird hingenommen, einschließlich der innerdeutschen Grenzen und der Oder-Neiße-Linie. Ein Bruch mit den geltenden Tabus bisheriger westdeutscher Außenpolitik. Das Besuchsprogramm sieht eine Kranzniederlegung an der
Gedenkstätte des Warschauer Ghettos vor. Brandt gestaltet diesen Gang zur historischen Szene. Langsam schreitet er auf das jüdische Mahnmal zu, zieht die Kranzschleifen zurecht - und sinkt dann plötzlich auf die Knie. Minutenlang verharrt er im Blitzlicht der offenbar überraschten, herbeistürzenden Reporter. Der Kniefall von Warschau wird von vielen Polen und Deutschen als Symbol der Verantwortung vor der Geschichte und als Aufforderung zur Versöhnung verstanden. Doch er ist auch umstritten, weckt tiefe Emotionen.
„Der Spiegel“ beauftragt beim Allensbacher Institut für Demoskopie eine Umfrage. Auf die Frage „Wie empfinden Sie das Verhalten von Willy Brandt - angemessen oder übertrieben?“, halten 41 Prozent der Befragten den Kniefall für angemessen, 48 Prozent für übertrieben, 11 Prozent äußern keine Meinung. Während die meisten westdeutschen Zeitungen Bilder vom Kniefall Brandts auf der Titelseite präsentieren, sucht man entsprechende Fotos
in der polnischen Presse vergebens. Als einzige Zeitung druckt die in jiddischer Sprache erscheinende Warschauer „FolksSztyme“ ein Foto des knienden Kanzlers. KP und Regierung Polens wollen das Bild eines „anderen Deutschland“ nicht. Die bislang vorherrschenden und ständig propagierten Klischees sind noch zu lebendig. Dennoch hat sich bei vielen Deutschen und Polen das Bild vom Kniefall Willy Brandts als Ikone einer von moralischen Grundsätzen geleiteten Politik der Annäherung eingeprägt.