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Deutsche & Polen

Drei unbekannte deutsche Soldaten - Oktober 1939

Es war Mitte Oktober 1939: Ich war 13 ½ Jahre alt, meine Schwester beinahe 19. Das Wetter war schrecklich, es schneite und regnete abwechselnd, es war windig und nasskalt. Wir marschierten aus Warschau zu unseren Großeltern, die im nördlichen Masowien, ungefähr 130 km von Warschau entfernt, eine Landwirtschaft besaßen.
Wo unsere Eltern sich aufhielten, wussten wir nicht, wir hatten uns von ihnen am 3. September verabschiedet. Unsere Eltern, von ihren Freunden eingeladen, begaben sich nach Ostpolen. Sie glaubten, dort vor Kriegsgefahren sicher zu sein.
Meine Schwester und ich fuhren nach Warschau, wo meine Schwester Romanistik an der Universität studierte. Ich sollte weiter nach Lwów (Lemberg) fahren, was mir natürlich nicht gelang. Die Eisenbahn funktionierte nicht mehr.
Wir haben also beide in Warschau die ganze Belagerung erlebt. Etwa zehn Tage nach dem Einzug deutscher Truppen haben wir uns entschlossen, Warschau zu verlassen. In Warschau herrschte ein Zustand, den man getrost Hungersnot nennen konnte, und wir hatten kein Geld mehr.

Am ersten Tage haben wir 30 km geschafft - durchnässt, ausgehungert und erschöpft. Gute Leute haben uns bei sich übernachten lassen, und eine Mehlsuppe angeboten, mehr hatten sie nicht. Am nächsten Morgen konnte ich nur mit Schwierigkeit laufen, meine Schwester fühlte sich auch schlecht, das Wetter blieb wie es am Vortage war. Nach zwei bis vier Kilometern ließen wir den größten Teil unseres Gepäcks im Straßengraben liegen, weil wir keine Kraft hatten, es weiter zu tragen.
Als wir schon etwa eine Stunde unterwegs waren, hielt neben uns ein Lastwagen der Wehrmacht an. Wir waren erschrocken. Ein Soldat stieg aus und fragte: „Wo wollt ihr denn hin?“ Stotternd versuchte ich, ihm das zu erklären. Er öffnete die Klappe des Wagens und sagte nur „rauf“. Ich kannte diese Kurzform nicht und guckte ihn verständnislos an. Dann hob er mich einfach hoch, setzte mich auf den Wagen und zeigte meiner Schwester, dass sie mir folgen solle. Nach ungefähr 40 - 50 km hielt der Wagen vor einer Straßenkreuzung wieder an, der Soldat stieg aus und sagte, dass er nun einen anderen Weg fahren müsse. Er gab jedem von uns eine Schokolade und sagte etwas, was ich als „Macht‘s gut, arme Kinder“ verstanden habe. Dann sprach ich zum ersten Mal in Deutsch zu einem Deutschen einen vollständigen Satz - mit Subjekt, Prädikat und Ergänzung: „Wir danken Ihnen schön, Herr Soldat“ Er winkte uns zu und fuhr los.

Wir waren entzückt obwohl wir noch 60 km bewältigen mussten. Nachmittags gelangten wir in ein ordentliches Dorf. Wir bekamen dort eine gute Unterkunft und viel zu Essen. Am nächsten Tag erreichten wir schon die Stadt, in welcher wir bis zum Kriegsausbruch gewohnt hatten. Von Bekannten erfuhren wir, dass unsere Eltern nicht zurückgekehrt sind und unsere Wohnung von deutschen Behörden beschlagnahmt sei. Wir marschierten also weiter und gingen an einem deutschen Wachtposten vorbei. Dann hörten wir plötzlich ein lautes „Halt“. Ich drehte mich um und sah einen deutschen Soldaten. Sein Gewehr war auf mich gezielt. Er schrie „Hände hoch!“ Er näherte sich, stieß mich mit dem Gewehrkolben, gab mir eine Ohrfeige und schrie, dass ich ein aus dem Gefangenenlager geflüchteter polnischer Soldat sei. Nach einer Weile kam ein anderer deutscher Soldat herbei, wahrscheinlich ein Unteroffizier. Er guckte mich an und sagte zum Wachtposten etwa so: „Mensch, bist du verrückt geworden? Siehst du nicht, dass es ein Kind ist?" Zu mir sagte er: „Geh mal ruhig nach Hause und zieh dich um, junger Mann“. Ich hatte nämlich meine Kadettenuniform an, obwohl ohne Koppel und ohne Mütze.

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