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Deutsche & Polen

Gedenken an den Warschauer Aufstand im kommunistischen Polen

Im Sommer, auch wenn wir verreist waren, machte sich mein Vater zum 1. August immer nach Warschau auf – zum Treffen der ehemaligen Aufständischen der AK (Armia Krajowa – Untergrundarmee) auf dem Pow¹zki – Friedhof, an den Gräbern der Gefallenen. Als kleines Kind hatte ich natürlich keine Ahnung, warum er das tat, ich habe aber gespürt: es war wichtig! Wenn wir aber am 1. August in Warschau waren, nahm mich mein Vater zum Friedhof immer mit. Ich erinnere mich an die feierliche Atmosphäre dieses Tages; ein Spaziergang zwischen den Gräbern und dann plötzlich, an einer Stelle, viele Männer und Frauen, die sich kannten, umarmt haben. Ausrufe: "Hast Du schon gesehen, diesmal ist sogar Witek aus England da, die Zosia aus Paris soll auch heute kommen!" Sie hatten oft so eigenartige Namen, die keine richtigen Vornamen waren, ich habe später verstanden, dass sie sich oft weiterhin mit ihren Decknamen angeredet haben.
Diese Erinnerung ist sehr stark – das war einer der wichtigsten Feiertage im Jahr – obwohl es ja offiziell keiner war.
Nach und nach habe ich mehr erfahren: mein Vater war gerade 16 Jahre alt geworden, als der Krieg anfing. Er stammte aus sehr bescheidenen Verhältnissen, ging aber auf das beste Warschauer Gymnasium –Reytana- und war die große Hoffnung der Familie. Die Schule wurde geschlossen – die Polen sollten nur noch etwas Lesen und Schreiben können. So haben sich sofort die so genannten „fliegenden„ Schulen und Universitäten gebildet. Man hat sich in kleinen Gruppen in privaten Wohnungen getroffen – Versammlungen waren verboten.
Mein Vater, vor dem Krieg ein Pfadfinder, hat schnell Kontakte zu dem sich bildenden Untergrund bekommen. Die meisten jungen Leute wollten nicht untätig bleiben, sie waren schnell für den Kampf gegen die Besatzungsmacht zu gewinnen. Die Meisten waren 16–18 Jahre alt, Konspiration war aufregend – ein Spiel mit dem Feuer, die Lage war ernst. Mein Vater lernte mit der Waffe umzugehen, Waffen zu konstruieren, kolportierte Untergrundflugblätter, nahm an Aktionen gegen die Besatzungsmacht teil. Das große Ziel war: ein Aufstand, oberstes Gebot: absolute Loyalität und Verschwiegenheit. Die "Neuen" kannte man nur unter ihren Decknamen.
Mein Vater erzählte mir später, er habe oft Angst ausgestanden, dass er erwischt wird, beim Verhör die Namen nennen muss, und wenn er das verweigert, wird seine Familie vor seinen Augen an die Wand gestellt , was eine bekannte Methode war.
Die Zeit verging, die jungen Menschen fieberten dem Anfang des Aufstandes entgegen. Mein Vater war in dem Bataillon "Baszta", er sollte in dem Warschauer Bezirk Mokotow kämpfen. Das Datum wurde immer wieder verschoben, natürlich erfuhren die Soldaten nicht wie furchtbar ausweglos die Situation war.
Als mein Vater älter wurde und über die Hintergründe schon viel wusste, (es waren schon die neunzigen Jahre), war er schon manchmal am überlegen, ob das sinnvoll war, so viele junge Menschen in den sicheren Tod zu schicken. Aber er wusste noch von damals: die Lage war explosiv, die jungen Menschen waren kaum mehr zu halten.
Am 1. August 1944 um 17:00 Uhr war es so weit. Mein Vater verließ das Haus als ob er zu einem gewöhnlichen Besuch zu einem Freund aufbrechen würde. Er hat mir erzählt, wie schwer ihm das gefallen ist, er wusste ja nicht, ob er wiederkehrt. Er war 21 Jahre alt. Er kämpfte in seinem Bataillon "Baszta" in Mokotow, sein Arm wurde durchgeschossen, und er hat auch viele Granatsplitter abbekommen. Ich erinnere mich, dass einige davon noch viele Jahre später rausgekommen sind, an eiternden Stellen.
Er erzählte, wie wunderbar es war, dass nach einigen Tagen, als die Stadt fast vollständig in den Händen der Aufständischen war, alles sofort möglich war: es gab polnisches Kino, Radioprogramm, Zeitungen, Post – alles! Es war notdürftig aber es hat funktioniert.
Dann kamen Rückschläge, erbitterter Kampf und schreckliche Rache an der Zivilbevölkerung. Zwei Monate haben die Aufständischen durchgehalten, dann kam die Kapitulation. Mein Vater erzählte, dass dieser Moment der Schwerste war. Innerlich hat er geweint. Waffen wurden abgegeben, alle zu den Zügen getrieben. Einige Tage waren sie in Viehwagons unterwegs, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen wird. Sie kamen in einen Kriegsgefangenenlager in Altengrabow in Brandenburg. Die polnischen Soldaten wurden mit Franzosen, Engländern und anderen Kriegsgefangenen untergebracht. Anfangs haben sie wochenlang aus Platzmangel auf dem Betonboden schlafen müssen. Mein Vater unterstrich aber immer, dass es am furchtbarsten den russischen Gefangenen erging, sie waren gesondert untergebracht und starben vom Hunger und Typhus.
Kurze Zeit wurde mein Vater auch zur Arbeit auf einem Gutshof eingesetzt, als er dort war, kamen die englischen Einheiten in das Dorf, der Krieg ging zu Ende. Im Lager hatte mein Vater jemanden getroffen, der ihm erzählt hat, dass die Familie meines Vaters in einem „Kessel„ umgekommen war. Er glaubte niemanden mehr zu haben. Die Engländer haben die Aufständischen für das Eintreten in die polnische Einheit in Großbritannien – die Anders-Armee- geworben. Mein Vater hat sich also zum Militär gemeldet. Er ist nach England und dann für ein Jahr nach Italien gekommen. Die Aufgabe der Einheit war es, die so genannte "Entnazifizierung" zu beaufsichtigen.
Der Krieg war zu Ende! Von England aus hat mein Vater über das Rote Kreuz eine Suchaktion nach seinen Verwandten gestartet und erfahren, dass sie doch am Leben seien. Das hat seine Entscheidung zur Rückkehr bestimmt. Viele sollen ihn gewarnt haben – es war das Jahr 1947, Polen hatte eine kommunistische Regierung, die AK- Untergrundsoldaten wurden verfolgt.
Mein Vater erzählte, dass er schon auf dem Schiff war, als noch durch die Lautsprecher die letzte Ansprache an die, die zurückkehren wollten, gehalten wurde – sie sollten sich das nochmal überlegen, noch gäbe es Zeit in England zu bleiben. Einige sind dann doch vom Deck heruntergegangen und im Westen geblieben. Für meinen Vater stand die Entscheidung fest. Für die Rückkehr hat er sich ganz besonders gut ausgerüstet, für die ganze Familie hatte er Geschenke dabei, sogar der Koffer war aus einem besonders gutem, doppelten Leder, den man zu Schuhen verarbeiten lassen konnte – das hat er sich vorher gut durchdacht gehabt. Vom Danzig fuhr er mit dem Zug nach Warschau, der Zug war überfüllt, Leute fuhren auf den Dächern. Den großen Koffer brachte er aus Platzmangel in der Toilette unter und passte vor der Tür auf, dass er nicht herausgetragen wird. Als er vor Warschau den Koffer holen wollte, war dieser nicht da – wahrscheinlich ist er bei einem der vielen Aufenthalte durch das Fenster nach Draußen befördert worden.
So ist also mein Vater zu Hause angekommen – genauso wie er aus dem Haus gegangen ist – er hatte nichts dabei! Die Stadt war zerstört, die Familie wohnte bei Verwandten in einem Zimmerchen, aber sie waren glücklich, sie gehörten zu den wenigen Familien in Warschau, wo sich die Eltern und alle vier Kinder wiedergefunden haben.
Ins Gefängnis ist mein Vater wegen seiner AK-Vergangenheit nicht gekommen, allerdings hatte er sehr lange Probleme eine Arbeit zu finden. Trotzdem habe ich niemals das Gefühl gehabt, dass er seine Entscheidung bereut hatte.
Der Aufstand war aber eines der wichtigsten Ereignisse in seinem Leben, vielleicht das Wichtigste überhaupt! Er kam immer wieder darauf zurück und dieses Datum – der 1. August – war ihm heilig.
Er ist 1997 gestorben, Kontakte zu einigen seiner Freunde habe ich immer noch, aber diese Generation schmilzt zusammen, und zum Teil können diese Ereignisse nur von den Kindern der Zeitzeugen erzählt werden, so wie das bei mir der Fall ist.

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