Eine internationale Erklärung zugunsten eines „Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen“ löst eine der langwierigsten und schärfsten Debatten der letzten Jahre aus.
Der Aufruf, zu deren Unterzeichnern Rita Süssmuth, Hans-Friedrich Genscher, Wladyslaw Bartoszewski, Bronislaw Geremek u. a. m. zählen, bezog sich auf eine Initiative der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" um die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, und den SPD-Politiker Peter Glotz.Was folgte, war eine heftige Debatte über den deutschen Umgang mit der Vertreibungsvergangenheit, die auch im Ausland, insbesondere in Polen, geführt wurde. Die im Sinne des Aufrufs vom 14. Juli argumentierenden Stimmen forderten einen Standort außerhalb Deutschlands bzw. Berlins, der den europäischen Charakter des Projekts
garantieren sollte. Die andere Seite widersprach zum einen Teil dem Vorwurf, einen zu wenig internationalen Ansatz zu verfolgen, woran auch ein Standort Berlin nichts ändere. Zum andern legitimierte sie eine mehr nationale Ausrichtung des Gedenkens an die Vertreibung. Ex-Außenminister Wladyslaw Bartoszewski etwa sprach sich gegen ein Berlin angesiedeltes Zentrum aus, da Berlin in polnischen Augen
mit der preußischen Germansierungspolitik und später der nationalsozialistischen Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik verbunden sei. Wie viele andere polnische Stimmen äußerte er die Befürchtung, daß ein nach den Vorstellungen der Stiftung gestaltetes Zentrum dazu dienen könne, die deutsche Schuld unter den Teppich zu kehren, freilich ohne daß er das
Leid der Vertreibung in Abrede stellte.Er ging so weit, ein Museum über zweihundert Jahre polnisches Leid unter deutscher Herrschaft vorzuschlagen, falls das Zentrum gegen Vertreibungen verwirklicht werden sollte. Adam Michnik und Adam Krzeminski rückten die Initiativen zu einem „Zentrum gegen Vertreibungen“ in den Zusammenhang der deutschen Selbstreflexion seit 1990 und bezeichneten das Zentrum als „Kehrseite der Debatte um den Bau des Holocaust-Mahnmals“, das neben die verewigte Schande der Täter die Besonderheit der Vertreibung der Deutschen stellen solle.Sie plädierten für ein Zentrum in Breslau, wo die Nationalgeschichten leicht europäisiert werden könnten. Staatspräsident Kwasniewski empfahl Sarajevo als Standort des Zentrums, während Ministerpräsident Miller meinte, daß die Polen die Aussiedlungen nicht verdammten, weil „das notwendige Übel Aussiedlung einen Neuanfang zwischen Deutschen und Polen erst ermöglichte“. Andere polnische Stimmen lehnten die Beteiligung des BdV mit dem Hinweis ab, daß einzelne Vertriebenenvertreter bis heute Entschädigungsforderungen stellen.
Negativer Höhepunkt der heftigen Debatte war ein Titelblatt der Zeitung Wprost, auf dem eine auf Bundeskanzler Schröder reitende, mit einer SS-Uniform bekleidete Erika Steinbach zu sehen war, was einerseits die Auflage steigerte, andererseits von beinahe allen polnischen Debattenteilnehmern klar verurteilt wurde. Papst Johannes Paul hingegen sprach den Vertriebenen anläßlich des Tags der Heimat grundsätzlich seine Sympathie aus, ohne auf das Zentrumsprojekt Bezug zu nehmen.
Auf der anderen Seite stellte Peter Glotz verzweifelt die Frage, warum ihm und seinen Mitstreitern niemand glaube, wenn sie die europäische Orientierung des Zentrums herausstellten.Erika Steinbach verwies darauf, daß sie bereits bei der Gründung der Stiftung die Botschafter der betreffenden Staaten zur Mitwirkung eingeladen hatte, ohne je eine Antwort erhalten zu haben. Ihr sprang Angela Merkel bei, die deutscherseits einen „Mangel an Selbstvertrauen“ konstatierte und sagte, daß für die Vertreibung als Teil der deutschen Geschichte ein nationales Projekt
angemessen sei. Edmund Stoiber sah es als selbstverständlich an, daß ein Volk seiner Opfer gedenkt.
Bundeskanzler Schröder wiederum sprach sich für eine Europäisierung des Projektes aus, da sonst das den Deutschen widerfahrene Unrecht zu sehr in den Vordergrund geraten könne. Außenminister Fischer bezeichnete die Vertreibungen als Teil einer umfassenden deutschen Selbstzerstörung, in der die Vernichtung des deutschen (und deutschsprachigen) Judentums eine mindestens ebenso große Rolle spielte.
Die Debatte enthüllte, wie leicht die geschichtspolitischen Fortschritte, die im deutsch-polnischen Verhältnis in den letzten Jahrzehnten erzielt worden waren, durch das Reizthema Vertreibung in den Hintergrund gedrängt werden konnte. Dazu kam die Uneinigkeit über den Irak Krieg und die EU-Verfassung, so daß die deutsch-polnischen Beziehungen im Jahr 2003 so schlecht waren wie seit langem nicht.