13.12.2003
Die EU-Verfassung scheitert

Bei der Stimmgewichtung im Ministerrat gab es keine Annäherung zwischen Warschau und Berlin.

Um sich ein zeitgemäßes, ihre Handlungsfähigkeit auch nach der anstehenden Erweiterung garantierendes Gefüge zu geben, berief die Europäischen Union im Dezember 2001, d. h. nur ein Jahr nach dem Vertrag von Nizza, einen Reformkonvent ein, der eine EU-Verfassung ausarbeiteten sollte. Der Konvent begann seine Sitzungen im Februar 2002 und verabschiedete am 10.07.2003 einen Verfassungsentwurf, über den sich in den folgenden Monaten eine Regierungskonferenz verständigen sollte. Besonders umstritten war unter den Regierungen die für Abstimmungen im Ministerrat vorgesehene „doppelte Mehrheit“, welche die auf einem Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten basierenden Mehrheitsbeschlüsse regeln soll.

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Zu Beginn des Brüsseler Gipfels

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Nach der „doppelten Mehrheit“ kann ein Beschluß nur von einer Mehrheit von Staaten gefaßt werden, die zugleich mindestens drei Fünftel der EU-Bevölkerung repräsentieren. Für die polnische Regierung stimmte Europaministerin Danuta Hübner dieser Regelung zu.
Auf dem EU-Gipfel im Juni sagte der polnische Ministerpräsident Leszek Miller erstmals, daß

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EU-Transparent in Zittau
EU-Beitritt
EU-Beitrittsverhandlungen
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Ein Grund zum Feiern in Kopenhagen

der Konventsentwurf auf die Schwächung Polens ziele. Ähnlich äußerte sich Spaniens Regierungschef Jose Maria Aznar. Beide Regierungschefs bestanden in den folgenden Monaten auf der im Vertrag von Nizza vereinbarten Regelung, die ihren Ländern ein größeres Gewicht einräumt: Spanien und Polen stehen demnach je 27 Stimmen zu, während

Deutschland, das rund vier Millionen Einwohner mehr hat als beide Länder zusammen, auf nur 29 Stimmen kommt. Dieses Verfahren ermöglicht Spanien und Polen mit Hilfe einiger kleiner Staaten leicht eine Blockade. Nach Millers Worten könne so ein „Diktat“ der Großen vermieden werden, das nicht zuletzt wegen des Aufweichens des Stabilitätspakts durch Berlin und Paris wahrscheinlicher erscheine. Weiterhin forderte Polen zusammen mit den meisten kleinen Mitgliedsstaaten, daß weiterhin alle Mitglieder einen stimmberechtigten EU-Kommissar stellen sollten. Dazu kam das Pochen auf einen Gottesbezug in der Präambel der EU-Verfassung.
Der strittigste Punkt blieb jedoch die „doppelte Mehrheit“: Der polnische Präsident Alexander Kwasniewski wies darauf hin, daß die in Nizza beschlossene Stimmenverteilung ein wesentliches Argument beim Referendum zu EU-Beitritt gewesen sei. Ein liberaler Politiker machte „Nizza oder der Tod“ zur tonangebenden Parole. Adam Michnik, Chefredakteur der Gazeta

Adam Michnik
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Adam Michnik mit dem damaligen polnischen Innenminister Kisczak

Wyborcza, bemerkte, daß die alten Mitglieder Verständnis für die Ängste und Bestrebungen ihrer ärmeren und kleineren Partner haben müsse, statt auch in der erweiterten EU ihren alten Einfluß bewahren zu wollen. Die einseitige Haltung der öffentlichen Meinung und der politischen Parteien in Polen kritisierte im Oktober ein offener Brief, der zudem davor

warnte, daß Polen vor der Tür eines Kerneuropa bleiben würde, dessen Entstehung es selber mit seiner starren Haltung erzwinge.Zitat
Auf deutscher Seite warnte Außenminister Fischer davor, eine Einigung über den Verfassungsentwurf zu verhindern, da dann das komplizierte Vertragswerk von Nizza gelte, und wie das funktioniere, werde „man dann schon sehen“. Bundeskanzler Schröder mahnte zur Konstruktivität: „Jeder, der dieses Paket [des Verfassungsentwurfs] aufschnürt, hat zugleich die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß ein besserer Konsens zustande kommt.“ In Paris und Berlin wurde angekündigt, im Falle eines Scheiterns des Konventsentwurfs ein „Kerneuropa“ anzustreben. Mitte Oktober stellte er klar, daß er keine Einigung „um jeden Preis“ anstrebte, und zwei Wochen später sagte auch Miller, daß keine Einigung immer noch besser sei als eine schlechte. Die Differenzen erwiesen sich als unüberbrückbar, und der EU-Verfassungsentwurf scheiterte auf dem entscheidenden EU-Gipfel in Brüssel.

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