Zitat

Deutsche & Polen

Als polonisierter Deutscher im kommunistischen Polen

Winfried Lipscher
Biografie

Ich sagte ja schon, dass ich aus einem absolut deutschen Elternhaus komme. Meine Eltern waren nicht polenfreundlich und sie wollten auch nicht in Polen leben. Aber ich musste in die polnische Schule gehen. In irgendeine Schule muss so ein Kind ja gehen. Und somit gab es immer diese Spannung: Einerseits sind wir Deutsche, andererseits müssen wir hier leben. Und es war immer das Bestreben da, nach Deutschland zu fahren, wegzugehen. Das war eigentlich unser Hauptanliegen. Mit etwas anderem hat man sich kaum beschäftigt. Ich kann nicht sagen, dass ich direkt von der polnischen Propaganda betroffen war. Ich war davon betroffen, dass ich als Kind in der Schule verfolgt wurde - vom Lehrer. Der Lehrer, mein Klassenlehrer war selbst strafversetzt, wie sich später herausstellte. Vorher war er in Osterode und hat sich dort abfällig über die Kommunisten geäußert. Man hatte ihn strafversetzt nach Barczewo, in meinen Geburtsort. Man hatte ihm aufgegeben, mich oder andere deutsche Kinder kräftig unter Druck zu setzen. Das führte zu ganz seltsamen Dingen. Z. B. hatte mir mein Vater verboten, am ersten Mai zum Umzug zu gehen. Dafür bekam ich die Note in Betragen heruntergesetzt. Und das setzte sich dann fort. Meine Mutter ging mit mir in die Schule und beschwerte sich. Bis es der Lehrer nicht mehr aushielt. Er offenbarte sich und sagte: "Ich muss das tun. Ich bin verpflichtet worden und ich muss mich hier bewähren. Ich muss dich unter Druck setzen.“ Daraus entwickelte sich ein unheimlich freundschaftliches Verhältnis. Ich bin abends oft zu ihm gegangen, unter dem Vorwand, Nachhilfe in Mathematik zu nehmen. Die brauchte ich nicht. Er hat mit mir Politik gemacht. Er hatte ein Zimmer, eine Wohnung am Rathaus. Wir saßen in seiner Wohnung und sahen am Rathaus ein rotes Transparent mit weißen Buchstaben. Es stand so etwas drauf wie “ Der Kommunismus wird siegen“, “Vom Sozialismus zum Kommunismus“ - so war’s. Er sagte zu mir: „Weißt du Winfried, du wirst es noch erleben, dass der Kommunismus untergeht“. Naja, und das haben wir dann auch erlebt. Er hat’s nicht mehr erlebt. Es war die kommunistische Propaganda, mit der ich zu tun hatte. Ich habe bei der polnischen Verwaltung gearbeitet und wollte im Abendstudium das Abitur machen. Das gelang mir nicht, weil sie mich aus der Schule rausgeschmissen haben. Zu mir ins Büro, ich war Kassierer, kam ein Mensch von der Geheimpolizei. Der fragte: “Was lesen Sie, welche Presse lesen Sie?“ Ich habe gesagt: “Am liebsten die letzte Seite“. Er: “Ach, interessieren Sie sich für Sport?“ Ich: “Nein, Sie wissen offenbar gar nicht, was auf der letzten Seite in unserer Zeitung steht. Es sind die Regionalnachrichten, der Sport steht auf der vorletzten Seite.“ Dann haben sie mich zum Verhör geschleppt. Sie haben mir Geld angeboten, falls ich über den Pfarrer berichte, all solche Sachen... Heute freue ich mich, dass ich durch meine Heimatstadt spazieren gehen kann. Meinen Gästen, meinen Besuchern zeige ich: “Hier hat das stattgefunden“. Sie hören sich das an wie ein Märchen.

Quelle:
Stubenrauch, Jens
"Interview mit Winfried Lipscher, katholischer Ermländer"
ORB, 2002

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