Zitat

Deutsche & Polen

Flucht vor der Front

Hildegard Kittel
Biografie

Es war so, dass wir das Donnergrollen von der Front schon lange hörten, bevor wir gesagt bekamen, dass es losgeht. Die Flüchtlinge, die noch weiter im Osten wohnten, kamen durch unser Dorf. Da sahen wir diese Trecks, mühsam bepackt mit Teppichen und die Menschen saßen obendrauf. Wir sind immer gucken gegangen, wenn wieder so ein Treck kam, hatten Angst, dass es uns auch passiert. Tatsächlich, eines Tages kam die Meldung: “Es geht los, wir müssen los!“ Wir waren auf gar nichts vorbereitet, wir hatten bloß Kühe in unserer Landwirtschaft, ein Pferd hatten wir nicht. Da mussten wir die Kühe vor die Wagen, die Fuhrwerke spannen, mit denen wir auf den Acker gefahren sind. Mit Mühe und Not haben wir für meine Tante, die schon alt und gehbehindert war, einen Sitz zurecht gemacht. Für meine kleine Schwester auch. Die wurden dann aufgeladen. Eines Morgens kam der Befehl: “Es geht los!“. Damals gab es Ortgruppenführer. Ich glaube, so einer hat wohl den Befehl gegeben. Wir sind nicht aus eigenen Stücken los. Gemeinsam, mit einem ganz langen Treck, sind wir alle zusammen los. Wir hatten in unserem Dorf ein Domenium, ein Rittergut, das früher Juden gehörte. Die damalige Besitzerin, so hatte ich das im Gefühl, wusste, was Sache ist. Die hat alle Leute, die auf diesem Domenium für sie gearbeitet hatten, mitgenommen. Die sind dann auch nicht in Bad Reinerz geblieben, wo wir aufgehört haben mit unserer Flucht. Sie sind gleich rüber in den Westen gegangen. Ich habe von denen nie wieder etwas gehört.

Quelle:
Stubenrauch, Jens
"Interview mit Hildegard Kittel, Vertriebene"
ORB, 2002

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